Das Kind von 6 – 12 Jahren

Die 2. Entwicklungsstufe

Die zweite Stufe der Entwicklung umfasst das Alter von 6 bis 12 Jahren, entspricht also etwa den Klassen 1 bis 6. Fast auf der ganzen Welt – mit Ausnahme von Deutschland und Österreich – sind Grundschulen oder Elementary Schools auf diese Phase abgestimmt. Das kommt nicht von ungefähr, denn es die Zeit der Kindheit bis zum Eintritt der Pubertät.

Körperliche Veränderungen

Um das 6. Lebensjahr leiten offensichtliche körperliche Veränderungen diese Entwicklungsstufe ein: Die Milchzähne fallen aus, die Kinder wachsen, Beine und Arme werden länger und die letzten Reste Babyspeck verschwinden. Es ist eine robuste und stabile Phase: Die meisten Kinderkrankheiten sind überstanden und die Krisen der Pubertät noch in weiter Ferne. Die sechs- bis zwölfjährigen Kinder sprühen meist vor Kraft und Energie und genießen es häufig, sich körperlichen Herausforderungen zu stellen.

Intellektueller Hunger

Doch auch auf kognitiver Ebene sind die Kinder äußerst leistungsfähig und Montessori schloss daraus, dass „die Natur diese Periode für den Erwerb der Bildung vorsieht[1]“. Da sie getrieben werden von unendlicher Neugierde und dem Verlangen, Ursache und Wirkung der Dinge zu verstehen, prägte Montessori das Bild eines fruchtbaren Feldes, welches darauf wartet, dass die Saat gesät werden kann, damit sie zur Bildung keimen kann. Der Wissensdrang des Kindes ist in diesem Alter unendlich groß und es nicht damit zufrieden, das Wissen in mundgerechten Häppchen serviert zu bekommen, geschweige denn, es auswendig zu lernen; vielmehr möchte es das ganze Universum erforschen und Zusammenhänge verstehen. Auf der Grundlage konkreter Erfahrungen – die es unter anderem im Kinderhaus gemacht hat – begibt es sich daher zunehmend in den Bereich abstrakter Konzepte und des logischen Denkens.

Vorstellungskraft

Es ist in dieser Phase ausgestattet mit einer ganz besonderen Gabe – der Vorstellungskraft – die es ihm erlaubt, weit über die konkreten, sensorischen Erfahrungen hinaus zu forschen. Doch bei allen Lernprozessen ist es eigene Aktivität, die es zu Erkenntnissen führt – nicht die langen Erklärungen der Pädagogen! Aus dem „Hilf mir, es selbst zu tun“ wird nun ein „Hilf mir, selbst zu denken!“

Erforschen gesellschaftlicher Strukturen

War das Kind während der ersten Phase der Entwicklung damit beschäftigt, alle Funktionen seiner Persönlichkeit auszubilden, so richtet sich sein Interesse nun auf seine Entwicklung hin zum sozialen Wesen. Es erweitert seinen Aktionsradius, und die Kontakte zu seinen Freunden nehmen einen immer höheren Stellenwert ein. Langsam entwickelt es das Bedürfnis, sich von seiner Familie lösen – was jedoch nicht bedeutet, dass es seine Familie weniger liebt. Vielmehr bildet es mit seinen Freunden organisierte Gruppen, in welchen verschiedene Rollen eingenommen und ausprobiert werden – der Anführer, der Helfer, der Aufpasser, der Mitläufer, der Schiedsrichter… Im geschützten Rahmen probiert es auf diese Weise aus, wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist und funktioniert. Auf Erkenntnisse, die es durch solche Interaktionen in dieser Phase seines Lebens gewinnt, wird es in seinem späteren Leben stets zurückgreifen können. Auf der emotionalen Ebene ist es zunehmend in der Lage, sich in die Gefühle anderer einzufühlen und konstruktive Kritik anzunehmen.

Moralische Entwicklung

Im engen Zusammenhang mit der sozialen steht seine moralische Entwicklung. Das sechsjährige Kind entwickelt eine große Sensibilität für Gerechtigkeit. Gilt anfangs noch „gleiches Recht für alle“ als gerecht, so begreift es mit der Zeit, dass es durchaus gerecht sein kann, Unterschiede zu machen. Ferner stellt es Fragen nach Gut und Böse und bildet sein eigenes Urteil darüber. Nicht zuletzt deshalb neigen die Kinder in dieser Phase häufiger dazu, zu petzen: Sie sind auf der Suche nach dem „Richtig“ oder „Falsch“ um ihr Verhalten danach auszurichten.

Montessori beobachtete all diese Veränderungen bei den Kindern zwischen 6 und 12 Jahren und passte die Inhalte und ihre Methode diesen veränderten Bedürfnissen der Schulkinder an: Sie entwarf ein Curriculum und eine vorbereitete Umgebung für die zweite Entwicklungsstufe.

 


[1] Montessori, Maria: Kosmische Erziehung, S. 37.